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EuGH: Ausgleichsleistungen auch bei "wildem Streik"

Es liegt kein außergewöhnlicher Umstand vor, wenn sich zahlreiche MitarbeiterInnen infolge der Ankündigung einer Unternehmensumstrukturierung krank melden. Ein "wilder Streik", der nicht von der Belegschaftsvertretung ausgerufen wurde, befreit das Unternehmen nicht von seiner Entschädigungspflicht.

Anfang Oktober 2016 kam es zu zahlreichen Krankmeldungen, nachdem das TuiFly Management Pläne zur Umstrukturierung des Unternehmens angekündigt hatte. Da nicht ausreichend (Bord-) Personal bereit stand, musste ein Großteil der für den Zeitraum von 3.10. bis 8.10.2016 geplanten Flüge annulliert werden; viele Flüge konnten nur mit großer Verspätung durchgeführt werden.

Betroffene Fluggäste machten Ausgleichsleistungen nach der Fluggastrechte-VO geltend. Die Airline wandte das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ein und behauptete daher von ihrer Zahlungspflicht befreit zu sein. Die mit den Klagen befassten Amtsgerichte Hannover und Düsseldorf wandten sich mit (ua) dieser Frage im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH.

Eingangs seiner Entscheidung hat der EuGH (wie schon in der Rs Wallentin-Hermann C-549/07) klargestellt, dass Streik zwar außergewöhnliche Umstände begründen kann, der Umkehrschluss aber nicht zulässig ist: Außergewöhnliche Umstände, die das Unternehmen von seiner Pflicht befreien, Ausgleichsleistungen zu bezahlen, liegen nur dann vor, wenn das Vorkommnis seiner Natur oder Sache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Unternehmens ist und es von ihm tatsächlich nicht beherrschbar ist (Rs Pesková und Peska C-315/15). Ob diese beiden Bedingungen erfüllt sind, ist von Fall zu Fall zu beurteilen.

Aus diesen Erwägungen leitet der EuGH ab, dass im zugrundeliegenden Fall kein außergewöhnlicher Umstand iSd Art 5 Abs 3 VO (EG) 261/2004 vorliegt: Umstrukturierungen gehören zu den normalen betriebswirtschaftlichen Maßnahmen eines Unternehmens, dabei ist es auch nicht ungewöhnlich, dass es in dem Zusammenhang zu Konflikten mit der Belegschaft kommen kann: Das Risiko, dass sich MitarbeiterInnen nach Ankündigung von Änderungsmaßnahmen krank melden und auf diese Weise de facto streiken, ist daher Teil der normalen Ausübung des Betriebs eines Unternehmens. Dazu kommt, dass der "wilde Streik" auf eine Entscheidung des Unternehmens zurückzuführen war und nach der Einigung mit dem Betriebsrat endete.

Fluggesellschaften sind daher zur Zahlung von Ausgleichsleistungen auch bei Vorliegen eines "wilden Streiks" verpflichtet.

Der Auffassung des Generalanwalts Evgeni Tanchev (Schlussanträge vom 12.04.2018), folgte der EuGH dabei nicht: Tanchev sprach sich dafür aus, dass die spontane Abwesenheit eines für die Durchführung von Flügen erheblichen Teils des Flugpersonals aufgrund einer arbeits- und tarifrechtlich nicht legitimierten Arbeitsniederlegung einen außergewöhnlichen Umstand darstelle. Dem hielt der Gerichtshof entgegen, dass eine derartige Differenzierung, die darauf abstellt, ob ein Streik nach dem einschlägigen nationalen Recht rechtmäßig ist oder nicht, bewirken würde, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats abhängen würde. Das würde das Ziel der Verordnung beeinträchtigen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste und harmonisierte Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in der EU sicherzustellen.

EuGH 17.04.2018, verbundene Rechtssachen C 195/17, C 197/17 bis C 203/17, C 226/17, C 228/17, C 254/17, C 274/17, C 275/17, C 278/17 bis C 286/17 und C 290/17 bis C 292/17 Krüsemann ua

Anmerkung: Auf den Entschuldigungsgrund der außergewöhnlichen Umstände kann sich die Fluggesellschaft nur dann berufen, wenn sie alles ihr zumutbare unternommen hat, um die widrigen Folgen zu vermeiden. Beweispflichtig dafür ist die Fluggesellschaft.

Das Urteil im Volltext.

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