Wann kann man von einer Reise in einen Gefahrengebiet kostenlos zurücktreten und wann muss man Stornogebühr bezahlen? Je höher die Gefahr, desto berechtigter ist ein kostenloser Storno. Wobei es stark auf die Umstände ankommt (und die können sich stündlich ändern).
Reisen in die USA kurz nach dem 11.9.
Bei Reisen, die unmittelbar nach den Terroranschlägen des 11.9.2001 anzutreten waren, sollte ein kostenloser Rücktritt jedenfalls möglich gewesen sein. Die meisten Reiseveranstalter haben kostenlosen Stornos auch zugestimmt. Falls jemand trotzdem Stornogebühr zahlen musste, wäre ein Musterprozess zu überlegen.
Unklare Rechtslage
Die Entscheidung, ob man eine Reise antritt oder nicht, kann man niemanden abnehmen. Bei Reisen, die derzeit und in nächster Zeit anzutreten wären, ist die Rechtslage unklar. Zum einen gab es bislang keine weiteren Anschläge. Das würde bedeuten: Keine Gefahr und die Veranstalter dürften zu Recht Stornogebühr verlangen. Sollten die USA aber ihre Angriffe beginnen, so wäre - meinen die Medien - sehr wohl mit einem "heiligen Krieg" und mit weiteren Anschlägen zu rechnen. In diesem Fall gäbe es erhöhte Gefahr.
Sollte ein Reisender in diesem Fall stornieren und das Flug- bzw. Reiseunternehmen würde trotz erhöhter Gefahr eine Stornogebühr verlangen: In diesem Fall raten wir allfällige Stornogebühren nur vorbehaltlich zu bezahlen; konkret: "vorbehaltlich" - so die juristische Formulierung - "rechtlicher Klärung und vorbehaltlich der Rückforderung". Sollte es in dieser Sache zu Prozessen kommen, hätte der mit Stornogebühr belastete Reisende die Gelegenheit bei Gericht Zahlungen rückzufordern.
New-York-Marathon
Einen Sonderfall stellen Reisen zum Marathon in New York (4.11.2001) dar. Im Regelfall wird der Marathon Geschäftsgrundlage für die Reise sein. Wenn also der Marathon abgesagt würde, müsste man kostenlos zurücktreten können. Solange der Marathon aber nicht abgesagt ist, gibt es daraus keinen Grund zum Rücktritt. Der Umstand, dass einem nach dem Terroranschlag in New York einfach die Lust an der Reise vergangen ist, reicht nicht für ein kostenloses Storno.
Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat - siehe unten - nach einem Musterprozess des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) bereits ein richtungsweisendes Urteil gefällt. Im Lichte dieser OGH-Entscheidung wird man davon ausgehen, dass Reisende die weitere Entwicklung noch abwarten müssen. Wer jetzt bereits storniert, wird wohl zu Recht mit der Zahlung einer Stornogebühr rechnen müssen. Wer allerdings jetzt noch zuwartet, obwohl er schon mit Sicherheit weiß, dass er nicht reisen will, trägt eine anderes - finanzielles Risiko: Wer später storniert, muss erheblich höhere Stornogebühren zahlen als bei einer sofortigen Stornierung.
Reisen in (Nachbar-)Länder möglicher Vergeltungsschläge
Für Reisen nach Afghanistan, Pakistan, Iran usw. wird man aufgrund der erwarteten US-Angriffe und der Drohung mit neuerlichen Gegenschlägen von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage ausgehen können. Kostenlose Rücktritte sollten möglich sein.
Flugreisen in andere typische Ferienländer
Zwar stellen die Selbstmordanschläge von New York eine neue Dimension der Gefahr für den Flugverkehr dar. Bei Flugreisen in typische Ferienländer ist die Gefahr nicht so groß, dass man solche Reisen kostenlos stornieren könnte.
Die Argumente des Obersten Gerichtshofes
In einem Musterprozess des VKI (OGH 27.5.1999, 8 Ob 99/99p - KRES 7/117
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1. Der Reisende kann ohne Stornogebühr vom Reisevertrag zurücktreten, wenn
a) sich nach Vertragsabschluss Ereignisse ergeben, die weder er noch der Vertragspartner zu verantworten haben, wegen Wegfalles der Geschäftsgrundlage dann ohne Zahlung einer Stornogebühr,
b) wenn die Durchführung der Reise für ihn unzumutbar geworden ist. In diesem Fall trägt der Veranstalter die "Preisgefahr". Entgegenstehende Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind sittenwidrig und nichtig.
2. Nach Vertragsabschluss unerwartet auftretende akute Kriegsgefahr oder bei Vertragsabschluss nicht vorhersehbare bürgerkriegsähnliche Zustände stellen jedenfalls Fälle höherer Gewalt dar, die - wegen Wegfalles der Geschäftsgrundlage - den Rücktritt rechtfertigen.
3. Bei Terroranschlägen am Urlaubsort muss man zwischen einem von jedem einzelnen zu tragenden allgemeinen Lebensrisiko und Anschlägen einer Intensität unterscheiden, die - so die Worte des OGH - unter Anlegung eines durchschnittlichen Maßstabes als Konkretisierung einer unzumutbaren Gefahr derartiger künftiger Anschläge erscheinen müssen. Dabei muss die Gefahr aus der Sicht eines durchschnittlichen - also weder eines besonders mutigen, noch eines besonders ängstlichen - Reisenden beurteilt werden, der die Gefahr im Lichte von Aussagen des Außenministeriums, aber auch seriöser Medienberichte vor Antritt der Urlaubsreise einschätzt. Dagegen ist nicht darauf abzustellen, wie sich die Sicherheitslage während und nach der Reise tatsächlich entwickelt hat.
4. Eine Reisewarnung des Außenministeriums stellt jedenfalls einen Grund zum kostenlosen Rücktritt dar. Ob ein Hinweis auf ein "erhöhtes Sicherheitsrisiko" im Zielgebiet ausreiche, wird ausdrücklich offen gelassen.
5. Steht der Antritt der Reise nicht unmittelbar bevor, so ist es dem Kunden durchaus zuzumuten, vorerst die weitere Entwicklung abzuwarten. Ein vorschnell erklärter Rücktritt kann nicht mit Wegfall der Geschäftsgrundlage legitimiert werden. Treten die Unruhen oder Anschläge allerdings unvermutet unmittelbar vor dem geplanten Reiseantritt auf, ist ein weiteres Zuwarten mit der Rücktrittserklärung in der Regel nicht zumutbar und kann auch an die Informationspflicht des Kunden keine allzu umfassende Anforderung gestellt werden.
6. Ein vereinzeltes unvermutetes Auftreten von Anschlägen am geplanten Urlaubsziel ist allgemeines Lebensrisiko. Das muss jedermann auch in seinem Heimatland tragen; solche einzelnen Anschläge rechtfertigen nicht den Rücktritt vom Vertrag wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage.
7. Wenn dagegen bei vereinzelten Anschlägen weitere derartige Gewaltakte zu befürchten sind, was insbesondere dann der Fall ist, wenn Terrororganisationen weitere Gewaltakte auf Urlauber oder Urlaubseinrichtungen ankündigen, kann von einer Verdichtung des Risikos ausgegangen werden. Das führt zu einer Unzumutbarkeit des Reiseantritts.