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Urteil: OLG Wien - Kein Mitverschulden, wenn Anleger Gesprächsprotokolle im Vertrauen auf die mündliche Anlageberatung ungelesen unterzeichnen

In zwei - bislang unveröffentlichten Urteilen - hat das OLG Wien (nicht rechtskräftig) zu einer Reihe von typischen Fragen rund um falsche Anlageberatung Stellung genommen.

1. Der Schaden der Anleger besteht bereits darin, dass der Berater den Anlegern Wertpapiere vermittelte, die nicht dem von ihnen gewünschten Risiko entsprochen haben: Ist der Kunde - wie in den gegenständlichen Fällen - an einer sicheren Anlage interessiert, stellt nach aktueller Rechtsprechung der Erwerb von risikoreichen Wertpapieren einen Schaden dar. Dieser Schaden ergibt sich daraus, dass der Anleger ein anderes Produkt erhält, als er offensichtlich haben wollte.

2. Das Verhalten des Beraters (der dem Finanzberatungs-Unternehmen als Erfüllungsgehilfe nach § 1313a ABGB zuzurechnen ist) war überdies kausal für diesen Schaden: Wären die Anleger über das tatsächliche Risiko eines Teil- oder Totalverlustes ihrer Investition richtig und vollständig aufgeklärt worden, hätten sie eine alternative Anlageform gewählt.

3. Das Gericht bejahte klar auch das Verschulden des Finanzberatungs-Unternehmens: Der Anlageberater ist zur anleger- und anlagegerechten Beratung verpflichtet. Der konkrete Umfang dieser Beratungspflicht ist im Einzelfall zu prüfen und hängt vom Fachwissen des Anlegers, dessen finanziellen Möglichkeiten, dessen Anlageziel und dem Anlageobjekt ab. Der Wissenstand des Kunden über Anlagegeschäfte der vorgesehenen Art und dessen Risikobereitschaft ist dabei wesentlich.

Werde ein typisches Risikogeschäft als sichere Anlage verkauft, liege ein schuldhafter Beratungsfehler umso mehr dann vor, wenn es sich um risikoaverse Anleger handelt. Bei kreditfinanzierten Wertpapierkäufen ist unter Umständen sogar vom Investment abzuraten, die Aufklärungspflichten sind nach der Rechtsprechung noch strenger zu beurteilen.

4. Zur Frage eines etwaigen Mitverschuldens hält das OLG grundlegend fest: Die Tatsache, dass vom Anlageberater ausgefüllte "Gesprächsnotizen" von den Anlegern - ohne sie gelesen zu haben, also im Vertrauen auf die mündlichen Zusagen des Beraters - unterschrieben wurden, begründet noch kein Mitverschulden der Anleger.

Eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten, die ein Mitverschulden begründen könnte, liegt nur dann vor, wenn die Schutzmaßnahme "nach dem allgemeinen Bewusstsein der beteiligten Kreise von jedem Einsichtigen und Vernünftigen" anzuwenden gewesen wäre. Das OLG nimmt hiezu auf eine jüngste Entscheidung des deutschen BGH Bezug, dass einem Anleger im allgemeinen kein grobes Verschulden vorgeworfen werden kann, wenn er auf den Rat und die Angaben "seines" Beraters vertraut hat und aus diesem Grund das Anlageprospekt nicht durchsieht und auswertet. Vielmehr weise ein solches Verhalten des Anlegers auf das bestehende Vertrauensverhältnis hin. Auch im gegenständlichen Fall hätten die Anleger den mündlich erteilten Informationen ihres Beraters vertraut. Wollte man Anleger dazu verpflichten, die vom Berater angefertigten Gesprächsnotizen auf ihre Übereinstimmung mit den mündlichen Versprechungen zu überprüfen, würde man die Sorgfaltspflichten der Anleger überspannen. Auch ließ das Gericht den Einwand des Finanzberaters nicht gelten, dass die Anleger die Kurs- und Marktentwicklung nicht selbständig beobachteten, keinen fachkundigen Rat einholten und die Aktien nicht verkauft hatten.

5. Auch verneinte das Gericht den Einwand der Verjährung der Ansprüche: Zu Laufen beginne diese in jenem Zeitpunkt, in welchem dem Geschädigten der Sachverhalt zur Gänze soweit bekannt sei, dass er erkennt, eine Anlage vermittelt bekommen zu haben, die nicht seinen Anlagewünschen entsprochen hat bzw wenn sich für den Anleger herausstellt, dass er eine erfolgsträchtigte Klage gegen den Anlageberater erheben könne. Entscheidend sei daher, wann die Anleger erkannten, dass die gegenständlichen Aktien - entgegen den Zusagen des Beraters - genauso riskant wie andere Aktien waren. Bloße Indizien für eine solche Kenntnis sind die -  an den Anleger gerichteten -  Depotstands- oder Kontostandsauszüge; das OLG verneinte im gegenständlichen Fall daher die Verjährung der Schadenersatzansprüche.

6. Abschließend hatte sich das OLG mit dem Einwand des Finanzberatungsunternehmens auseinanderzusetzen, dass es als bloßer Berater und Vermittler der Wertpapiere nicht zur Naturalrestitution verhalten werden könnte. Das Gericht betont den grundsätzlich im Gesetz normierten Vorrang der Naturalrestitution bei Schadenersatzansprüchen. Eine Interessenabwägung (Schädiger-Geschädigter) habe aber dann stattzufinden, wenn die Untunlichkeit der Naturalrestitution iSd § 1323 ABGB behauptet wird. Die Tatsache, dass das Finanzberatungsunternehmen bloß Vermittler (nicht Verkäufer) der Wertpapiere war, stellt - so das OLG dem BGH folgend - kein Hindernis für die Naturalrestitution dar. Wenngleich das Interesse des Schädigers, bloß Geldersatz zu leisten (ohne im Gegenzug die Aktien zurücknehmen zu müssen) für das Gericht nachvollziehbar sei, übersteige es nicht das Interesse des Anlegers an der Naturalrestitution. Da zu dieser Frage allerdings höchstgerichtliche Rechtsprechung noch ausständig ist, ließ das OLG die ordentliche Revision an den OGH zu.

OLG Wien 27.9.2010, 1 R 180/10p
OLG Wien 1 R 188/10i (WirtBlatt 17.11.2010)

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