Eine Frau ließ sich in Deutschland Brustimplantate einsetzen, die von der Poly Implant Prothèses SA (PIP), einer Gesellschaft mit Sitz in Frankreich, hergestellt wurden. PIP hatte mit einem Unternehmen, dessen Nachfolgerin die Allianz IARD SA ist, einen Versicherungsvertrag abgeschlossen, der ihre Haftpflicht wegen der Herstellung dieser Produkte abdeckte. Der Versicherungsvertrag enthielt eine Klausel, die die geografische Reichweite des Versicherungsschutzes auf in Frankreich eingetretene Schadensfälle beschränkte. Nach französischem Recht räumte der Vertrag den Geschädigten einen Direktanspruch gegen den Versicherer ein.
Die von PIP hergestellten Brustimplantate waren mit nicht zugelassenem Industriesilikon befüllt. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Deutschland) empfahl den betroffenen Patientinnen, die von PIP hergestellten Implantate wegen der Gefahr ihres vorzeitigen Reißens und der Entzündungswirkung des verwendeten Silikons vorsorglich entfernen zu lassen. Daraufhin ließ die Klägerin die fraglichen Implantate durch neue Implantate ersetzen.
PIP wurde 2010 für zahlungsunfähig erklärt und anschließend liquidiert. Die Klägerin erhob in Deutschland eine Schadensersatzklage ua gegen die Allianz.
Fraglich war nun, ob die im Versicherungsvertrag enthaltende Klausel, die den Versicherungsschutz auf in Frankreich eingetretene Schadensfälle beschränkt, gegen das Unionsrecht verstößt, genauer gegen Art 18 Abs 1 AEUV. Dieser besagt, dass unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist. Dh es war zu prüfen, ob es sich um eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit handelt.
Art 18 Abs 1 AEUV kommt nach stRsp nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung, für die die Verträge keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsehen. Seine Anwendung hängt somit davon ab, dass zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Der Sachverhalt, der der geltend gemachten Diskriminierung zugrunde liegt, muss in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.
2. Auf einen solchen Sachverhalt darf kein in den Verträgen vorgesehenes besonderes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar sein.
Ad 1: Die Haftpflichtversicherung der Hersteller von Medizinprodukten für Schäden im Zusammenhang mit diesen Produkten ist durch das Unionsrecht nach seinem gegenwärtigen Stand nicht geregelt. Nach der Rsp des EuGH ermöglicht die Ausübung einer der im AEU‑Vertrag geregelten Grundfreiheiten, den Sachverhalt, in dem diese Freiheit ausgeübt wird, in den Anwendungsbereich der Verträge iSv Art 18 Abs 1 AEUV einzubeziehen. Der gegenständliche Sachverhalt, der der Diskriminierung zugrunde liegt, fällt aber nicht in den Anwendungsbereich dieser Freiheiten. Die erste der Voraussetzungen nach Art 18 Abs 1 AEUV ist somit im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Zusammenfassend lässt sich daher sagen: Art 18 Abs 1 AEUV findet keine Anwendung auf eine in einem Vertrag zwischen einem Versicherungsunternehmen und einem Hersteller von Medizinprodukten enthaltene Klausel, die die geografische Reichweite der Deckung der Haftpflichtversicherung für diese Produkte auf Schäden beschränkt, die im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats eintreten, da ein solcher Sachverhalt nicht in dessen Anwendungsbereich fällt.
EuGH 11.6.2020, C‑581/18 (RB/TÜV, Allianz)