Verbraucher hatten beim beklagten Reiseveranstalter für März 2020 eine Pauschalreise gebucht und eine Anzahlung geleistet. Die allgemeinen Vertragsbedingungen enthielten ua Informationen über die Möglichkeit, den Vertrag vor dem Abreisedatum gegen Zahlung einer Rücktrittsgebühr zu beenden. Die Möglichkeit eines Rücktritts vom Vertrag aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe auftreten und die Durchführung des Vertrags erheblich beeinträchtigen würden (Art 12 Abs 2 der Pauschalreise-RL (EU) 2015/2302), war in diesen Informationen nicht vorgesehen. Im Februar 2020 traten die Konsumenten wegen der Ausbreitung des Coronavirus in Asien vom Vertrag zurück. Der Reiseveranstalter zahlte nur einen kleinen Teil der Anzahlung zurück. Die Verbraucher klagten – im spanischen Ausgangsfall ohne anwaltliche Vertretung – einen weiteren Teil, aber nicht die gesamte Anzahlung ein.
Information über das Rücktrittsrecht nach Art 12 Abs 2
Art 5 der Pauschalreise-RL selbst sieht zwar nicht vor, dass über das – kostenfreie – Rücktrittsrecht nach Art 12 Abs 2 bei Eintritt unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die die Durchführung seines Pauschalreisevertrags erheblich beeinträchtigen, zu informieren ist. Nach Art 5 sind die vorvertraglichen Informationen aber durch ein Standardinformationsblatt gemäß Anhang I Teil A oder B bereitzustellen. In den Standardinformationen ist das Rücktrittsrecht bei außergewöhnlichen Umständen ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vorgesehen. Art 5 Abs 1 nimmt demnach von den vorvertraglichen Informationen, die dem Reisenden unbedingt bereitzustellen sind, nicht die Information über das ihm nach Art 12 Abs 2 zustehende Recht aus.
Da der Reisende nach Art 5 Abs 1 über sein Rücktrittsrecht iSv Art 12 Abs 2 zu informieren ist, stellt sich die Frage der Gültigkeit von Art 5 in Hinblick auf Art 169 AEUV sowie Art 114 Abs 3 AEUV nicht.
Amtswegige Prüfung des Rücktrittsrechts nach Art 12 Abs 2
Im Unionsrecht sind die für die Prüfung dieses Rücktrittsrechts geltenden Verfahrensmodalitäten nicht harmonisiert. Nach Art 24 der RL stellen die Mitgliedstaaten nur sicher, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, mit denen die Einhaltung dieser RL sichergestellt wird.
Aus der Rsp des EuGH ergibt sich, dass das nationale Gericht verpflichtet ist, von Amts wegen die Einhaltung bestimmter unionsrechtlicher Verbraucherschutzvorschriften zu prüfen, wenn ohne diese Prüfung das Ziel eines wirksamen Verbraucherschutzes nicht erreicht werden könnte (OPR-Finance, C‑679/18, Rn 23).
Die Pflicht des nationalen Gerichts zur Prüfung von Amts wegen wurde bereits für die HaustürgeschäfteRL, die KlauselRL sowie die VKRL anerkannt.
Für den wirksamen Schutz des Reisenden nach Art 12 Abs 2 der RL zustehenden Rücktrittsrechts ist es erforderlich, dass das nationale Gericht einen Verstoß gegen diese Bestimmung vom Amts wegen aufgreifen darf.
Die vom nationalen Gericht von Amts wegen vorzunehmende Prüfung des Rücktrittsrechts iSv Art 12 Abs 2 unterliegt jedoch bestimmten Voraussetzungen: Erstens muss eine der Parteien des betreffenden Pauschalreisevertrags ein Gerichtsverfahren bei dem nationalen Gericht eingeleitet haben und dieses Verfahren muss diesen Vertrag zum Gegenstand haben. Zweitens muss das Rücktrittsrecht iSv Art 12 Abs 2 mit dem Streitgegenstand zusammenhängen, wie dieser von den Parteien nach Maßgabe der von ihnen gestellten Anträge und vorgebrachten Gründe definiert ist. Drittens muss das nationale Gericht über alle erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügen, um zu prüfen, ob das Rücktrittsrecht von dem betreffenden Reisenden geltend gemacht werden könnte. Viertens darf der Reisende dem nationalen Gericht nicht ausdrücklich mitgeteilt haben, dass er der Anwendung von Art 12 Abs 2 widerspreche. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist das nationale Gericht verpflichtet, das Rücktrittsrecht iSv Art 12 Abs 2 der RL von Amts wegen zu prüfen.
In einer Situation, in der sich der betreffende Reisende nicht auf die Anwendung dieser Bestimmung beruft, obwohl die Anwendungsvoraussetzungen erfüllt zu sein scheinen, ist nicht auszuschließen, dass er nicht wusste, dass das in der Bestimmung vorgesehene Rücktrittsrecht besteht. Das genügt, damit das nationale Gericht diese Bestimmung von Amts wegen anführen darf. Diese Voraussetzungen scheinen im vorliegenden Fall vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht erfüllt zu sein.
Diese Prüfung von Amts wegen verlangt von dem Gericht in der von den nationalen Verfahrensvorschriften dafür vorgesehenen Form, zum einen den Kläger über sein Rücktrittsrecht, wie es in Art 12 Abs 2 vorgesehen ist, zu informieren und ihm zum anderen die Möglichkeit einzuräumen, dieses Recht im laufenden Gerichtsverfahren geltend zu machen, und, wenn es der Kläger geltend macht, den Beklagten aufzufordern, dies kontradiktorisch zu erörtern. Diese Prüfung von Amts wegen verlangt demnach vom nationalen Gericht nicht, dass es den betreffenden Pauschalreisevertrag von Amts wegen ohne Gebühren beendet und dem Kläger einen Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen gewährt. Eine solche Anforderung ist nämlich nicht erforderlich, um einen wirksamen Schutz des Rücktrittsrechts iSv Art 12 Abs 2 zu gewährleisten, und verstößt gegen die Autonomie des Klägers bei der Ausübung seines Rücktrittsrechts. Insbesondere kann das nationale Gericht nicht verpflichtet sein, von Amts wegen einen Pauschalreisevertrag gemäß dieser Bestimmung zu beenden, wenn der Reisende nach einem Hinweis des Gerichts freiwillig und aufgeklärt auf der Grundlage der genannten Bestimmung nicht von seinem Vertrag zurücktreten möchte. Die Richtlinie 2015/2302 geht nämlich nicht so weit, Reisende dazu zu zwingen, die Rechte, über die sie nach dem durch die Richtlinie eingeführten Schutzsystem verfügen, auszuüben.
=> Art 12 Abs 2 der Pauschalreise-RL dahin auszulegen, dass er der Anwendung von Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts nicht entgegensteht, in denen die Grundsätze der Verhandlungsmaxime und der Bindung an die Parteianträge verankert sind, wonach das nationale Gericht, wenn ein Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt und der betreffende Reisende bei dem Gericht weniger als die volle Erstattung einklagt, dem Reisenden nicht von Amts wegen die volle Erstattung zusprechen darf, sofern es nach den Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts nicht ausgeschlossen ist, dass das Gericht den Reisenden von Amts wegen über seinen Anspruch auf volle Erstattung informieren und ihm die Möglichkeit geben kann, den Anspruch bei ihm geltend zu machen.