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EuGH: Rücktrittsrecht bei Lebensversicherungen

Nach dem EuGH ist eine Regelung, die das grundlose Rücktrittsrecht des Verbrauchers vom Lebensversicherungsvertrag auf ein Jahr beschränkt, unionsrechtswidrig, wenn sie auch für den Fall fehlender Belehrung über das Rücktrittsrecht gelten soll.

Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war die Bestimmung des § 5a dVVG aF. Für Deutschland gilt daher, dass Versicherungsnehmer auch jetzt noch vom - mitunter vor Jahrzehnten (jedenfalls aber bis zum 1.1.2008) abgeschlossenen - Versicherungsvertrag zurücktreten können, wenn sie nicht ordnungsgemäß belehrt wurden. Auswirkungen auf Österreich sind nicht ausgeschlossen.

Nach der Entscheidung des EuGH steht Art 15 Abs 1 der Zweiten RL Lebensversicherung iVm Art 31 der Dritten RL Lebensversicherung einer nationalen Regelung wie jener nach § 5a dVVG aF (am 1.1.2008 außer Kraft getreten) entgegen. Die Bestimmung sah vor, dass das Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, auch wenn der Versicherungsnehmer nicht über sein Rücktrittsrecht belehrt worden ist.

Die Regelung läuft nach dem EuGH der Zwecksetzung der Zweiten und Dritten RL Lebensversicherung zuwider, die sicherstellen sollten, dass der Versicherungsnehmer über sein Rücktrittsrecht genau belehrt werde. Der Versicherungsnehmer soll daher nach diesem Zweck vom Versicherungsvertrag jedenfalls zurücktreten können, wenn er - in Kenntnis aller Umstände - der Ansicht ist, dass der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht optimal entspricht.
Die von der Allianz aufgrund der erheblichen wirtschaftlichen Tragweite des Urteils (das Urteil betrifft laut Versicherer über 108 Mio Versicherungsverträge mit einem Prämienvolumen iHv über 400 Mrd Euro, die zwischen 1995 und 2007 abgeschlossen wurden) beantragte Begrenzung der zeitlichen Rückwirkung des Urteils wurde vom EuGH - wie bereits in den Schlussanträgen von GA Sharpston - abgelehnt. Die restriktiv zu handhabenden Voraussetzungen dafür, insb das Bestehen einer erheblichen objektiven Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der unionsrechtlichen Bestimmungen, liegt seiner Ansicht nach nicht vor.

Vielmehr lassen die einschlägigen Bestimmungen der RL Lebensversicherung keinen Zweifel an ihrem wesentlichen Ziel zu, nämlich: es dem Versicherungsnehmer zu ermöglichen, von einem Lebensversicherungsvertrag zurückzutreten, wenn er der Ansicht ist, dass der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht entspricht.

Im Anlassfall hatte Herr Endress im Jahr 2008 gegenüber der Allianz Lebensversicherungs AG den Rücktritt von einem Rentenversicherungsvertrag erklärt, den er im Jahr 1998 abgeschlossen hatte - ohne damals über sein Rücktrittsrecht informiert worden zu sein.

EuGH 19.12.2013, C-209/12 (Walter Endress/Allianz)

Anmerkung:

Auswirkungen des EuGH-Urteils für österr Versicherungsnehmer:

1. Nach dem EuGH-Urteil ist eindeutig, dass auch die österr Rechtslage bis 1.7.2012 (§ 165a VersVG aF) den Anforderungen der 2. und 3. RL Lebensversicherung nicht genügt, weil die zivilrechtlichen Rechtsfolgen der Verletzung der in § 9a VAG vorgesehenen Belehrung über das Rücktrittsrecht nicht richtlinienkonform sind. Vielmehr erlischt das Rücktrittsrecht gem § 165a VersVG aF - außer bei fehlender Belehrung über die Anschrift des Versicherers (Abs 2 leg cit) - auch bei fehlerhafter Belehrung über das Rücktrittsrecht stets schon nach 30 Tagen nach Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags.

Für österr Versicherungsnehmer heißt das konkret: Wurde eine Lebens- oder Rentenversicherung abgeschlossen und wurde der Verbraucher bei Vertragsabschluss nicht ordnungsgemäß über das ihm zustehende Rücktrittsrecht belehrt, steht das Rücktrittsrecht unbefristet zu. Betroffene Verbraucher können in diesem Fall auch jetzt noch vom Vertrag zurücktreten. Als Konsequenz kann der Verbraucher die Rückzahlung der bereits einbezahlten Prämien verlangen. Dies gilt nach dem aktuellen EuGH-Urteil unabhängig davon, ob der Versicherungsvertrag vor oder nach Inkrafttreten des VersRÄG 2012, dh vor oder nach dem 1.7.2012 abgeschlossen wurde.

2. Auch für die Rechtslage danach, also für ab 1.7.2012 geschlossene Verträge, dürften die geltenden Regelungen der § 165a Abs 2a VersVG (idF VersRÄG 2012) - jedenfalls teilweise - nach wie vor europarechtswidrig sein. Verbrauchern iSd § 1 Abs 2 KSchG wird darin zwar ein unbefristetes Rücktrittsrecht eingeräumt. Allerdings geht der Kundenbegriff der Zweiten und Dritten RL Lebensversicherung über den - in der nationalen Umsetzung gewählten - Verbraucherbegriff gem § 1 Abs 2 KSchG hinaus.

Das Urteil im Volltext

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