Reisende haben das Recht vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Dies sieht § 10 Abs 2 PRG (Pauschalreisegesetz) vor. Diese Bestimmung hat Art 12 Abs 2 der Pauschalreise-RL (2015/2302/EU) umgesetzt.
Anlässlich eines Falles mit einem Reiserücktritt wegen der COVID-19-Pandemie hat nun die EuGH-Generalanwältin zu einigen der strittigen Auslegungspunkte im Zusammenhang mit dieser Bestimmung Stellung bezogen:
Die Feststellung nach Art 12 Abs 2 Satz 1 der Pauschalreise-Richtlinie (EU) 2015/2302, dass „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ aufgetreten sind, hängt nicht davon ab, ob eine amtliche Reisewarnung der Behörden des Abreise- und/oder Ankunftsstaats, von nicht notwendigen Reisen abzusehen, und/oder eine Einstufung des Bestimmungslands (bzw. evtl. auch des Abreiselands) als Risikogebiet veröffentlicht wurde. Im Einklang mit dem nationalen Verfahrensrecht können die nationalen Gerichte jedoch amtliche Warnungen berücksichtigen, die auf ein hohes Risikoniveau am Bestimmungsort hinweisen, sofern diese Warnungen keine notwendige Voraussetzung für die Feststellung solcher „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ darstellen.
Dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags haben, kann nicht nur dann festgestellt werden, wenn diese Durchführung unmöglich ist, sondern auch dann, wenn sie erhebliche Risiken für die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden mit sich bringt. Diese Folgen sind objektiv zu beurteilen. Subjektive Faktoren im Zusammenhang mit der eingeschränkten Mobilität oder der Schutzwürdigkeit des Reisenden können jedoch berücksichtigt werden, wenn diese Faktoren überprüfbar sind.
Die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags beruht auf einer zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorgenommenen Ex-ante-Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser erheblichen Auswirkungen; diese Beurteilung ist aus Sicht eines „normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen“ Durchschnittsreisenden vorzunehmen.
Das Recht des Reisenden nach Art 12 Abs 2 der Pauschalreise-Richtlinie, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, wird durch die Tatsache beeinflusst, dass die vom Reisenden geltend gemachten Umstände bereits aufgetreten oder zumindest bereits vernünftigerweise vorhersehbar waren, als der Pauschalreisevertrag abgeschlossen wurde, sofernsich diese Umstände sowie die Kenntnis des Reisenden von diesen Umständen und ihren Folgen nicht zwischen dem Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags und dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag erheblich ändern. Insoweit ist bei der Anwendung des Kriteriums der hinreichenden Vorhersehbarkeit im Kontext der Covid 19-Pandemie zu berücksichtigen, dass der Verlauf und die Folgen der Pandemie zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags schwer vorhersagbar waren.
Für die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags, die das Recht nach Art 12 Abs 2 der Pauschalreise-Richtlinie begründen, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, ist die Situation am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe sowie die Situation am Abreiseort und den auf der Reise, einschließlich der Rückreise, dazwischen liegenden Orten zu berücksichtigen.
Schlussantrag der Generalanwältin Medina 21.9.2023, C-299/22 (Tez Tour)