Ausgangsverfahren
Der Konsument buchte im Januar 2020 für sich und seine Ehefrau bei Kiwi Tours eine Pauschalreise nach Japan, die vom 3. bis zum 12. April 2020 stattfinden sollte. Nachdem von den japanischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid‑19 ergriffen worden waren, trat der Konsument mit Schreiben vom 1. März 2020 wegen der von Covid‑19 ausgehenden Gesundheitsgefährdung vom Pauschalreisevertrag zurück.
Dem Konsumenten, der bereits eine Anzahlung geleistet hatte, wurde eine Rücktrittsgebühr in Rechnung gestellt, die dieser auch bezahlte. Am 26. März 2020 erließ Japan ein Einreiseverbot, woraufhin der Konsument von Kiwi Tours die Erstattung der Rücktrittsgebühr forderte.
Der Deutsche Bundesgerichtshof hat das Verfahren dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, um zu klären, ob Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 dahin gehend auszulegen ist, dass für die Beurteilung der Berechtigung des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag nur jene unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände maßgeblich sind, die im Zeitpunkt des Rücktritts bereits aufgetreten sind, oder ob auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten Beginn der Reise tatsächlich auftreten.
Ausführungen EuGH
Aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 lässt sich entnehmen, dass das Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, „vor Beginn der Pauschalreise“ ausgeübt werden muss, wodurch die für die Ausübung dieses Rechts bestehende Voraussetzung, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“, zwangsläufig zum Zeitpunkt eines solchen Rücktritts, also „vor Beginn der Pauschalreise“, erfüllt sein muss.
Daher ist für die Beurteilung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, in zeitlicher Hinsicht auf den Zeitpunkt des Rücktritts vom betreffenden Pauschalreisevertrag abzustellen.
Folglich ist zum einen diese Voraussetzung, soweit sie das Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ verlangt, als erfüllt anzusehen, wenn solche Umstände zum Zeitpunkt des Rücktritts vom betreffenden Pauschalreisevertrag tatsächlich aufgetreten sind.
Zum anderen sind diese Umstände, soweit sie „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“ müssen, zwangsläufig vorausschauend zu beurteilen, da sich die Beeinträchtigung endgültig erst zu dem Zeitpunkt zeigt, der für die Durchführung der betreffenden Pauschalreise vorgesehen ist.
Daraus folgt, dass sich diese Beurteilung hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die sich der betreffende Reisende beruft, im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 „die Durchführung der Pauschalreise … erheblich beeinträchtigen“ werden, auf eine Prognose stützen muss.
Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und der Erheblichkeit dieser Beeinträchtigung ist aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden zu prüfen, also ob ein solcher Reisender vernünftigerweise annehmen konnte, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die er sich beruft, die Durchführung seiner Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort wahrscheinlich erheblich beeinträchtigen würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Februar 2024, Tez Tour, C‑299/22, EU:C:2024:xxx, Rn. 71).
„Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302, die nach dem Rücktritt vom Vertrag auftreten, können nicht berücksichtigt werden.
Es könnte zwar durchaus den Schutz des betreffenden Reisenden verbessern, wenn für die Ausübung des in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 verankerten Rechts, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, Entwicklungen, die nach dem Rücktritt von diesem Vertrag, aber vor Beginn der betreffenden Pauschalreise eintreten, als entscheidend angesehen und die Durchführung des Vertrags letztlich tatsächlich verhindern würden. Es könnte jedoch auch umgekehrt dazu kommen, dass sich nach dem Rücktritt von diesem Vertrag herausstellt, dass diese Pauschalreise infolge einer unerwarteten Verbesserung der betreffenden Situation doch noch durchführbar ist. In diesem Fall würde dem Reisenden nämlich das Recht genommen, von seinem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, und zwar auch dann, wenn er sich zum Zeitpunkt des Rücktritts von seinem Reisevertrag auf eine realistische Prognose der Wahrscheinlichkeit einer solchen Verhinderung gestützt hat. Zudem würde man die Möglichkeit, kostenfrei vom Vertrag zurückzutreten von Entwicklungen abhängig machen, die nach der Rücktrittserklärung eintreten, was zu fortdauernder Unsicherheit führt, die erst zu dem für den Beginn der Pauschalreise vorgesehenen Zeitpunkt beseitigt werden würde.
Fazit
Reisende haben dann ein kostenfreies Rücktrittsrecht vom Pauschalreisevertrag, wenn zum Zeitpunkt des Rücktritts der normal informierte, angemessen aufmerksame und verständige Durchschnittsreisende vernünftigerweise damit rechnen konnte, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen werden.
EuGH 29.02.2024, C-584/22