Rechtssache C‑414/22
Ein Verbraucher buchte beim Veranstalter DocLX eine Maturareise nach Kroatien. Die Reise sollte vom 27. Juni bis 3. Juli 2020 stattfinden. Am 13. März 2020 verhängte das österreichische Außenministerium Reisewarnstufe 4 über alle Länder weltweit, womit dringend geraten wurde, nicht unbedingt notwendige Reisen zu verschieben oder von Rücktrittsmöglichkeiten Gebrauch zu machen.
Am 21. April 2020 informierte DocLX den Konsumenten darüber, dass ein kostenfreier Rücktritt von der Pauschalreise derzeit nicht möglich sei, sondern dass diese nur aufgrund von äußeren Umständen wie beispielsweise einer Reisewarnung der Stufe 6 und selbst dann erst sieben Tage vor dem geplanten Reiseantritt möglich sei. DocLX bot jedoch eine Stornierung der Reise zu einer reduzierten Stornogebühr an; dieses Angebot nahm der Konsument an. DocLX erstattete ihm daraufhin einen Teil des Preises zurück, behielt sich jedoch einen Betrag von 227,68 Euro als Stornogebühr ein.
Die Pauschalreise wurde letztlich nicht durchgeführt. Der VKI klagte die Stornogebühr für den Konsumenten ein. DocLX trat der Klage mit der Begründung entgegen, dass im April 2020 noch nicht absehbar gewesen sei, dass unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände die Durchführung der Reise im Juni 2020 tatsächlich unmöglich machen würden.
Rechtssache C‑584/22
In dieser Rechtssache aus Deutschland buchte ein Konsument eine Reise nach Japan für die Zeit vom 3. bis zum 12. April 2020. Nachdem von den japanischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus ergriffen worden waren, trat der Verbraucher mit Schreiben vom 1. März 2020 wegen der vom Coronavirus ausgehenden Gesundheitsgefährdung von der Reise zurück.
Der Veranstalter Kiwi Tours erstellte daraufhin eine Stornorechnung, die der Verbraucher zahlten. Am 26. März 2020 erließ Japan ein Einreiseverbot. Der Verbraucher verlangte daraufhin Rückzahlung der geleisteten Beträge; dies lehnte Kiwi Tours ab.
Rechtsgrundlage
Art 12 Abs 2 Pauschalreise-RL (2015/2302/EU) lautet: „Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise
Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.“
In Österreich wurde Art 12 Abs 2 der RL in § 10 Abs 1 PRG umgesetzt.
Ausführungen Generalanwältin
Mit den beiden Fragen in der Rechtssache C‑414/22 und der Frage in der Rechtssache C‑584/22 möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob Art 12 Abs 2 der Pauschalreise-RL dahin auszulegen ist, dass die Beurteilung des Auftretens unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen, wodurch der Reisende zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr berechtigt wird, ausschließlich zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorzunehmen ist, oder ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag, aber noch vor dem Beginn der Pauschalreise tatsächlich auftreten.
Es ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr „vor Beginn der Pauschalreise“ entsteht. Die Verwendung der Präposition „vor“ weist darauf hin, dass zwischen der Entscheidung zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag und dem Beginn der Pauschalreise ein zeitlicher Abstand besteht. Die Entscheidung zum Rücktritt von der Reise nach Art 12 Abs 2 hat daher prognostischen Charakter. Sie beruht auf einer Vorhersage oder Ex-ante-Beurteilung des Auftretens „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ und ihrer erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise oder, falls diese Umstände bereits aufgetreten sind, auf einer Vorhersage des Fortbestehens der erheblichen Auswirkungen auf die Pauschalreise.
Die Ex-ante-Beurteilung, die der Reisende zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag vornimmt, beinhaltet daher eine Beurteilung der Wahrscheinlichkeit dafür, dass die „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise haben werden. Diese Beurteilung muss sich am Ausnahmecharakter des Rechts auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr orientieren. Zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag muss der Reisende vernünftigerweise damit rechnen, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen werden.
Es ist für dieses Recht nicht erforderlich, dass der Reisende mit absoluter Gewissheit behaupten kann, dass unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände definitiv auftreten und erhebliche Auswirkungen haben werden.
Das Recht des Reisenden auf Rücktritt vom Vertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr nach Art 12 Abs 2 der Pauschalreise-RL kann vor Beginn der Pauschalreise zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag entstehen, wenn vernünftigerweise erhebliche Auswirkungen auf die Pauschalreise vorhersehbar sind. Dieses bereits entstandene Recht kann nicht aufgrund späterer Ereignisse erlöschen.
Hat der Reisende umgekehrt kein Recht auf einen kostenfreien Rücktritt, kann dieses Recht nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag nicht aufgrund späterer Ereignisse entstehen. Würde zugelassen, dass das tatsächliche Auftreten der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände unabhängig von der zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag vorgenommenen Beurteilung eine eigenständige Voraussetzung für die Anerkennung des Rechts auf kostenfreien Rücktritt wäre, hätte dies zur Folge, dass allen Reisenden unabhängig von den Gründen, die sie für den Rücktritt vom Vertrag geltend gemacht haben, ein neuer Anspruch auf vollständige Erstattung zuerkannt würde. Die „Ex-post-facto“-Lösung würde Ungewissheit darüber schaffen, zu welchem Zeitpunkt die Rechte und Pflichten beider Vertragsparteien zu beurteilen sind. Wird, im Gegensatz hierzu, als ausschließlich maßgebliches Kriterium die Ex-ante-Beurteilung der Risikosituation zum Zeitpunkt der Beendigung des Vertrags zugrunde gelegt, wird Rechtssicherheit im Hinblick auf die Folgen der Beendigung gewährleistet
Der Wortlaut, der Kontext und der Zweck der Pauschalreise-RL sprechen für eine Auslegung von Art 12 Abs 2, wonach der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung des Rechts auf Rücktritt vom Vertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr derjenige einer Ex-ante-Beurteilung zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag ist.
Dabei steht es nicht im Widerspruch zu Art 12 Abs 2, wenn die nationalen Gerichte spätere Ereignisse als Beweiselemente berücksichtigen, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht frei zu würdigen sind. Wenn der Reisende zum Zeitpunkt des Rücktritts unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände geltend gemacht hat, die von ihm geltend gemachte Situation sich verschlechtert hat und dies zu erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise führt, wird dies die von ihm zum Zeitpunkt des Rücktritts vorgenommene Prognose bekräftigen. Wenn der Reisende jedoch zum Zeitpunkt des Rücktritts nicht berechtigt war, vom Vertrag zurückzutreten, können spätere Ereignisse für sich genommen nicht zum Entstehen eines Rechts auf kostenfreien Rücktritt führen, auf das er keinen Anspruch hat. Ebenso wenig kann sich eine Verbesserung der Situation negativ auf den Anspruch des Reisenden auf eine volle Erstattung auswirken, wenn er zum Zeitpunkt des Rücktritts eine vernünftige Prognose zu den wahrscheinlichen Auswirkungen der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände auf die Pauschalreise vorgenommen hat.
In den Rechtssachen des Ausgangsverfahrens hätte, was die Rechtssache C‑414/22 anbelangt, das nationale Gericht zu beurteilen, ob ein durchschnittlich aufmerksamer und verständiger Reisender vernünftigerweise damit rechnen konnte, dass die Pandemie erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der als Festreise im Sommer 2020 geplanten Pauschalreise haben würde. Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen erscheint es angesichts der dringenden Aufforderung der nationalen Behörden, alle nicht unbedingt notwendigen Reisen zu verschieben und von Möglichkeiten eines Rücktritts von Reiseverträgen Gebrauch zu machen, vernünftig, dass ein Durchschnittsreisender im April 2020 die Prognose trifft, dass diese Reise (deren Sinn und Zweck gerade darin bestand, eine hohe Zahl junger Menschen zum Feiern zusammenzubringen) nicht stattfinden würde. Desgleichen ist zu beachten, dass, wenn das nationale Gericht zu dem Schluss kommen sollte, dass der Reisende nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt war, ihm dieses Recht zusteht, ohne dass er an eine Vereinbarung über die Zahlung reduzierter Rücktrittsgebühren gebunden ist, die er in Unkenntnis seiner Rechte abgeschlossen hat. Diese Vereinbarung führt nämlich zu einer Einschränkung seiner Rechte, die nach Art. 23 Abs. 3 dieser Richtlinie für den Reisenden nicht bindend ist.
=> Art 12 Abs2 der Pauschalreise-RL ist dahin auszulegen, dass die Beurteilung des Auftretens unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die die Durchführung des Vertrags erheblich beeinträchtigen, wodurch der Reisende zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr berechtigt wird, ausschließlich zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorzunehmen ist. Das Entstehen dieses Rechts hängt nicht davon ab, ob solche Umstände nach dem Rücktritt vom Vertrag tatsächlich aufgetreten sind.
Schlussantrag der Generalanwältin 21.9.2023, verb Rs C‑414/22 (VKI/DocLX) und C‑584/22 (QM/Kiwi)